Bei der Gewaltprävention liegt hierzulande noch vieles im Argen. Vor allem werden die Präventionspotenziale im frühen Kindesalter höchst unzureichend genutzt. Denn schon im Alter von 1,5 Jahren seien bei hochaggressiven Jungen, die später Gewalttaten begehen, erste Warnzeichen zu erkennen.
Darauf hat Prof. Klaus Wahl, der seit langem zu Gewalt, Aggression und Fremdenhass forscht, auf dem Symposium „Frühe Prävention von Gewalt“ beim Kongress für Kinder- und Jugendmedizin 2022 in Düsseldorf, hingewiesen. In der Politik scheine man aber nicht zu glauben, dass insbesondere früh erlebte Gewalt in der Kindheit später überdurchschnittlich häufig wiederum selbst Gewalttaten auslöse. Denn die bisherigen Gewaltprävention-Programme setzten viel zu spät an – zumeist erst ab dem späteren Kindes- oder Jugendalter. Bei deutlich früheren Interventionen könnte man die spätere Rate an Gewalttaten glattweg halbieren, erklärte Wahl in Düsseldorf.
Destruktive Kindheit – Hang zur Gewalt steigt
Wie lohnend eine solche Zäsur in der Präventionspolitik wäre, zeigt eindrücklich der Buchautor Sven Fuchs, der seit langem zu den Zusammenhängen von negativen Kindheitserfahrungen und Terrorismus forscht und dies in seinem Buch „Die Kindheit ist politisch“ festgehalten hat. Aus einer Metaanalyse von 36 Studien hat er herausgefunden, dass rechtsextremistische Täter in den meisten Fällen eine „destruktive Kindheit“ und selbst schwerwiegende körperliche Gewalterfahrungen erlebt hätten. Zum Beispiel die Terroristen der RAF, die vielfache negative Gewalterlebnisse in ihrer Kindheit erdulden mussten bis hin zu Misshandlungen und gravierenden Gewaltkonflikten insbesondere mit den Vätern. Dies treffe auch für die NSU-Rechtsextremistin Beate Zschäpe zu: Mutter Alkoholikern, Vater abwesend, ab der 12. Lebenswoche Betreuung in einer Krippe sowie mehrfache Brüche mit Betreuern und Vertrauenspersonen in der frühen Kindheit. Auch die beiden Täter der Attentate auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke seien in ihrer Kindheit „schwer misshandelt worden“, erläuterte Fuchs weiter. Und schließlich seien auch körperliche Misshandlungen an Wladimir Putin durch seinen Vater belegt. Zudem seien die Eltern Putins im Krieg schwer traumatisiert worden, was seine eigene Kindheit zudem weiter stark negativ geprägt habe. Michail Gorbatschow hingegen habe eine sehr gute Kindheit ohne irgendwelche nachhaltigen Traumata durchlebt.
Angesichts all dieser Zusammenhänge, deren Folgen fatal sind und die auch in keiner Weise beschönigt werden dürfen, sei es schon verwunderlich, dass die Gewaltprävention im sehr frühen Kindesalter immer noch nicht den Stellenwert hat, den sie längst haben müsste, kritisierte Robert Schlack, der im Robert-Koch-Institut eine Reihe von Studien zu Gewalt im Kindesalter initiiert hat. Elternkurse, Broschüren Anzeigen und Appelle zur Moralerziehung reichten hier nicht aus, da damit gerade die Hochrisikogruppen nicht erreicht würden, beklagte auch Klaus Wahl. Auch aus dem heute sehr differenzierten Angeboten der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U11 resultierten keine frühzeitigen Warnhinweise für eine rechtzeitige Gewaltprävention, weil daraus keine genauen Erkenntnisse zu frühen psychosozialen Auffälligkeiten von Kindern gezogen werden könnten. Die Frühen Hilfen seien ebenfalls keine verlässliche Größe, da sie gerade für die Hochrisikogruppen zu unübersichtlich aufgestellt und zudem auch nicht überall vorhanden seien.
Ruf nach einem sozialpädagogischen Breitbandantibiotikum
Stattdessen müssen mit der frühen Prävention von Gewalt bereits vor der Geburt zum Bespiel in Stillkursen begonnen werden, forderte Wahl in beim Düsseldorfer Kongress. Auch der stärkere und längere Einbezug von Familienhebammen in Familien mit Gewaltpotenzial würde sich auf Dauer auszahlen. Hilfreich seien auch Hausbesuche von Ärzten oder medizinischem Fachpersonal, weil solche Interventionen individuell zugeschnitten seien.
Um ein breit ausgerichtetes frühes Risikoscreening zu etablieren, plädierte Wahl schließlich generell für die Etablierung eines „sozialpädagogischen Breitbandantibiotikums,“ mit dem über einen interdisziplinären Ansatz frühzeitig die sozial-emotionalen Kompetenzen gewaltgefährdeter Kinder gefördert werden könnten. Dazu müssten aber neben den Medizinern insbesondere auch Kita-Fachkräfte und Grundschullehrer geschult werden, da diese viel zu wenig über die Zusammenhänge von Gewalttaten und frühen negativen Kindheitserfahrungen wüssten und daher auch die Bedeutung der Frühprävention unterschätzten.