Niemand hat ihr nachgetrauert, die Ärzte schon gleich gar nicht. Dass die weithin so ungeliebte Praxisgebühr jedoch einen solch gewaltigen Steuerungseffekt hatte, überrascht doch und rückt sie jetzt wieder in ein neues Licht. Denn nach ihrer Abschaffung ist der Anteil von rein hausärztlich gesteuerten Patienten auf knapp 16 Prozent zusammengeschmolzen. Zuvor war es rund 50 Prozent, im internationalen Vergleich auch kein berauschender Wert, aber immerhin dreimal so viele wie nun in Zeiten nach der Praxisgebühr. Mit gravierenden Folgen. So hat sich zum Beispiel die Morbidität bei ungesteuerten Patienten mit psychischen Erkrankungen um 4,4 Prozent erhöht, während sie bei den gesteuerten Patienten zurückgegangen ist.
Weitere Detailergebnisse: Ungesteuerte Patienten sind im Durchschnitt jünger, wohnen eher in städtisch geprägten Regionen und sind etwas häufiger weiblich.
Diese und viele weitere Erkenntnisse, die das Institut für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Klinikum rechts der Isar der TU München mit seiner über sechs Jahre laufenden Routinedatenanalyse aus Bayern zusammengetragen hat, sind gesundheitspolitisch höchst brisant. Zum einen, weil sie repräsentativ sind: Denn die Ergebnisse basieren auf einer retrospektiven Analyse anonymisierter Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns von mehreren Millionen Patienten im Zeitraum von 2011-2016 (2011/2012 mit, 2013-2016 ohne Praxisgebühr). Eingeschlossen worden sind dabei alle gesetzlich Versicherten mit Mindestalter 18 Jahren und Hauptwohnsitz in Bayern. Patienten galten in der Erhebung dann als „hausärztlich gesteuert“, wenn sämtliche Facharztkontakte innerhalb eines Quartals auf einer hausärztlichen Überweisung basierten.
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Versorgungssteuerung durch Primärversorger in Deutschland deutlich schwächer ausgeprägt als in anderen EU-Staaten. Um hier entgegenzusteuern und die koordinierende Rolle von Hausärzten zu stärken, wurde im Jahr 2004 die Praxisgebühr eingeführt. In jedem Quartal mussten erwachsene Patienten für den ersten ambulanten Arztkontakt ohne Überweisung eine Gebühr von 10 Euro entrichten. Ende 2012 erfolgte die Abschaffung der Praxisgebühr, da der der bürokratische Aufwand für zu hoch galt.
Dass diese Veränderungen derart drastisch ausfallen, hat selbst Experten überrascht, wie Prof. Antonius Schneider, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Klinikum rechts der Isar der TU München, einräumt.
Für die neue Regierung und ihr Koalitionspapier hätten sie eine Steilvorlage sein können. Denn ein gezieltere Steuerung von Patienten würde nicht nur den Kostendruck reduzieren, sondern auch die Versorgung verbessern und insbesondere die Überversorgung abbauen. Es ist daher nicht nachzuvollziehen, warum zum Beispiel die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) nicht ein einziges Mal im Koalitionspapier auftaucht. Das kann sich noch rächen. Spätestens dann, wenn die Kostenlawine so über uns hinwegrollt, dass neben der HzV auch alle anderen denkbaren Steuerungsinstrumente (Wahltarife, Gebühr für Facharztbesuche, modifizierte Praxisgebühr), wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt werden müssen.
Schneider verweist hierbei auf die Ergebnisse früher Studien seines Lehrstuhls, nach denen Patienten mit hausärztlicher Steuerung im Schnitt 9,45 Euro geringere ambulante Kosten (haus- und fachärztlicher Leistungsbedarf sowie Verordnungskosten) pro Quartal auslösten als vergleichbare Patienten ohne Steuerung. Bezogen auf alle Versicherten in Bayern summiert sich dieser Einspareffekt immerhin auf geschätzt 50 Millionen € pro Jahr. Das ist schon eine Hausnummer, hochgerechnet auf ganz Deutschland würden sich so die Einsparungen auf 250 bis 300 Millionen Euro anhäufen. Pro Jahr wohlgemerkt! Da müsste doch gerade eine zum Sparen verdonnerte Regierung eigentlich hellhörig werden. Raimund Schmid