Es sind schon bizarre Konstellationen, mit der wir derzeit während der Corona-Pandemie klar kommen müssen. So staunt man derzeit (Mitte Mai 2020) nicht schlecht darüber, dass selbst in den Hochzeiten der Corona-Pandemie die mühsam freigeschaufelten (Intensiv)-Bettenkapazitäten und Beatmungsplätze nur spärlich ausgelastet waren. Oder man reibt sich verwundert die Augen, wenn die extra eingerichteten Corona-Teststationen fast wie verlassen wirken und eigentlich insgesamt doppelt so viele Tests möglich wären, als derzeit tatsächlich stattfinden. Und es mutet zumindest seltsam an, wenn wir uns bei der Zahl der tatsächlich Infizierten und der Zahl der Toten – viele alten Menschen sind nicht am, sondern mit dem Coranavirus gestorben - statistisch im „weitgehenden Blindflug“ befinden, wie es jüngst Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, freimütig eingeräumt hat.
Um nicht missverstanden zu werden: Das politische Handeln ist von einer großen Mehrheit der Bevölkerung bisher zu Recht mitgetragen worden. Frühe Maßnahmen, die Disziplin der Bevölkerung und ein – auch hausärztlich - gut aufgestelltes und schnell umgerüstetes Gesundheitssystem haben uns vor dem Desaster bewahrt, dass Länder wie Italien oder Spanien durchleben mussten. Bis Anfang Mai sind in dort jeweils mehr als viermal so viele COVID-19 Patienten verstorben als bei uns.
Doch das alles musste sehr teuer erkauft werden. War es das wert? Und vor allem: Sind die Lockerungen zu spät erfolgt? Ist es zu rechtfertigen, dass die Betten für viele andere schwerer Erkrankte – wie etwa für nicht konsequent weiter behandelte Krebspatienten – so lange leer bleiben mussten und damit auch mehr Todesfälle bei anderen schwer kranken Patienten in Kauf genommen wurden? Da auch die Betten für COVID 19 Patienten weitgehend leer blieben, ist ja sogar die groteske Situation eingetreten, dass die Krankenhäuser ihre Kapazitäten so stark wie nie zuvor heruntergefahren haben. Und das in Hochzeiten einer Pandemie!
Ist es ethisch vertretbar, die Betreuung im Pflegeheim, eine würdige palliative Begleitung am Lebensende bis hin zu einer gebührenden Trauerfeier für verstorbene Patienten auf ein für Angehörige so lange Zeit nur schwer erträgliches Minimum zu reduzieren? Oder stimmt die Messlatte, wenn wir wissen, dass pro Jahr mindestens sechsmal so viele Menschen an der Influenza oder an Krankenhauskeimen sterben als bis Anfang Mai an der COVID19 Erkrankung? Denn runtergebrochen auf eine Stadt oder Region ist die Zahl der Infizierten und Toten selbst in Bayern und erst recht in Mecklenburg-Vorpommern gar nicht so hoch.
Das sicherlich ist auch ein Erfolg des rigiden und freiheitseinschränkenden Kurses der Bundesregierung, der bis Ende April richtig war. Doch angesichts der massiven Kollateralschäden weit über den Gesundheitssektor hinaus ist diese Strategie nun nicht mehr zu rechtfertigen. Der politische Kurs darf ab jetzt nicht mehr nur auf das Virus gerichtet sein. Denn alle weiteren Kollateralschäden, die aus den Freiheitseinschränkungen, den wirtschaftlichen Einbußen und den psychischen Belastungen entstehen, sind jetzt gravierender als eine erneut höhere Anzahl von Infizierten.
Damit sollen die COVID 19-Erkrankungen in keiner Weise verharmlost werden, zumal eine zweite Welle jederzeit oder spätestens im Herbst immer befürchtet werden muss. Doch dieses Risiko muss jetzt in Kauf genommen werden. Hinterher ist man immer schlauer, diese Devise darf für die Regierung jetzt nicht gelten. Sie muss jetzt gleich sämtliche Auswirkungen der Coronakrise in den Blick nehmen und nicht mehr nur auf das hohe Gut Gesundheit achten. Weitere spürbare Lockerungen bis zum Sommer sind daher alternativlos, um es mit den Worten der Kanzlerin auszudrücken. Sonst werden die Kollateralschäden nicht mehr zu reparieren sein!